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Viele Menschen in der Bundesrepublik stürzten sich nach der Befreiung 1945 eher in die Aufbauarbeit, als sich an den Verlust der jüdischen Gemeinden, an die vielen Opfer der Nationalsozialisten und an ihre eigene Beteiligung am Unrecht erinnern zu wollen. Oft handelt(e) es sich um “unerbetene Erinnerungen”, wie der Holocaust-Forscher Raul Hilberg festgestellt hat.
Wie an vielen anderen Orten wäre es ohne die Forderung von Überlebenden auch in Breisach nicht zur Einweihung eines Gedenksteins auf dem Platz der früheren Synagoge gekommen. Das war 1959 und von der Vorgeschichte erzählt der Briefwechsel, den Helene Weil (geb. Kahn) mit dem Bürgermeisteramt führte.
Die Forderung an den Gemeinderat, vierzig Jahre nach Kriegsende die jüdische Geschichte der Stadt besser ablesbar zu machen und die Straßenumbenennungen der Nazis von “Judengasse” in “Rheintorstrasse” in und und von “Synagogengässle” in “Klösterle” rückgängig zu machen, stieß auf teilweise heftigen Widerstand.
Es gab 1998 im Gemeinderat nur eine Mehrheit für einen Kompromiss:
1. Umbenennung des “Klösterle” in “Synagogenplatz, ehemals Klösterle”,
2. Ergänzung des Namens “Rheintorstraße” mit “ehemals Judengasse”,
3. Neugestaltung des Synagogenplatzes durch Zeigen der Umrisse und des Eingangs der Synagoge und ein neues Mahnmal auf dem Synagogenplatz.
Viele Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland sprachen Einladungen an die früheren jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus Freiburg: Ende der 1980er Jahre, aus Breisach: erst auf Druck hin, 1998 und 2000. Damit kam das Wissen um die Leiden der jüdischen Familien und ihr Überleben zurück in ihre Heimat. Seitdem hat der Förderverein mehrmals zu größeren Begegnungswochen mit jüdischen Familien aus der ganzen Welt nach Breisach eingeladen.
Seit 2000 werden in jedem Jahr Gedenktage veranstaltet:
- am 10. November wird auf dem Synagogenplatz an den Terror 1938 erinnert;
- am 22. Oktober wird am kleinen Mahnmal unterhalb des Münsters an die Deportation 1940 erinnert (ein zweites Mahnmal – von Freiburger Schüler:innen 2004 hergestellt – wurde in das Zentrale Mahnmal in Neckarzimmern integriert); und
- am 27. Januar wird an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 erinnert, dies wird vorbereitet von Lehrerinnen und Schüler:innen der Hugo-Höfler-Realschule.
Als Reaktion auf die Pogrome gegen Ausländer nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990, z.B. in Rostock, gründete sich 1993 “Für die Zukunft Lernen” Verein zur Erhaltung der Kinderbaracke Auschwitz-Birkenau e.V., der seitdem regelmäßig mit einer Gruppe von jungen Menschen, eine Lern- und Arbeitswoche in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau durchführt. Daraus sind vielfältige Kontakte erwachsen, so dass sich in Breisach der “Freundeskreis Oświęcim e.V.” gründete, um eine Partnerschaft zwischen den Städten Breisach und Oswiecim vorzubereiten, die 2009 ins Leben gerufen wurde.
Neben dem Austausch von Schüler:innen des Martin-Schongauer-Gymnasiums und der Hugo-Höfler-Realschule mit Schulen in Oświęcim werden in regelmässigen Abständen Studienreisen nach Krakau und Oświęcim für die Allgemeinheit angeboten.
STOLPERSTEINE, vom Künstler Gunter Demnig erfunden, wurden und werden von ihm in vielen Gemeinden in Deutschland und Europa gelegt. Sie setzen immer eine lokale Erforschung der Lebensgeschichte der einzelnen Menschen voraus. Wir finden sie heute in Freiburg, aber auch in Eichstetten und Müllheim.
Bislang findet man keine solchen Stolpersteine in Breisach. Ein erster Gedenkstein, aus einem Rheinwacken, erinnert seit 2015 vor dem Blauen Haus an Michael Eisemann. Die katholische und die evangelische Kirche in Baden entwickelten gemeinsam ein Projekt, junge Leute zu bitten, in ihren Gemeinden einen Gedenkstein für die Deportierten zu entwerfen und herzustellen. Ein zweiter Stein für Breisach wurde so in Neckarzimmern in ein zentrales Mahnmal für die Deportation der badischen Juden und Jüdinnen eingefügt. In Freiburg wurde im Jahr 2000 auf dem Platz der Alten Synagoge ein Verkehrsschild platziert: Gurs 1027 km.
Jahr für Jahr kamen Holocaustüberlebende und berichteten Schulklassen von ihrer Lebensgeschichte. In Freiburg übernahm es Rosita Dienst-Demuth, die Kinder der ehemaligen Zwangsschule für jüdische Kinder in der Lessing Realschule zu suchen, einzuladen und ihre Geschichten aufzuschreiben (https://www.geschichtswerkstatt-fr.de/de/start/ ).
In Baden-Württemberg haben sich seit den 1970er Jahren die oft bürgerschaftlich getragenen Initiativen vermehrt, die historische Gebäude zu Orten des Lernens, Forschens und Erinnerns aufbauen: die restaurierte Synagoge von Sulzburg, das Museum in der Mikwe in Emmendingen, das frühere Gemeindehaus als Blaues Haus in Breisach, um nur die regionalen Beispiele zu nennen. Sie laden dazu ein, sich mit der Geschichte und der Gegenwart auseinanderzusetzen (https://www.gedenkstaetten-suedlicher-oberrhein.de; https://www.lpb-bw.de).
Das Dokumentationszentrum Nationalsozialismus Freiburg befindet sich im Aufbau und gibt schon jetzt neue Impulse in die “Gedenkstättenlandschaft”. Die Eröffnung soll Ende 2023 erfolgen. https://nsdoku.freiburg.de/pb/1661556.html
In Gurs errichteten Überlebende auf dem Lagerfriedhof einen Gedenkstein. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kam es zu einer Initiative der badischen Großstädte unter Führung von Karlsruhe, den Lagerfriedhof neu zu gestalten. Er wurde 1963 eingeweiht. Jahr für Jahr findet dort eine Gedenkfeier statt, an der inzwischen auch Bürgermeister und Vertreter von kleineren Städten und Dörfern teilnehmen. Zur Arbeitsgemeinschaft, die den Friedhof und die Erinnerung pflegt, gehören jetzt 16 badische und pfälzische Gemeinden.
Seit 1999 arbeitet der Förderverein an einer Dokumentation über die Familiengeschichten der Breisacher Juden. Dabei konnte zum einen auf eine Liste zurückgegriffen werden, die Ludwig Dreifuß für die Stadt erstellt hatte. Noch wichtiger war aber zweitens die Arbeit einer Forschergruppe des Hauptstaatsarchivs Stuttgart unter der Leitung von Paul Sauer. Sie legte eine mehrbändige Dokumentation der Schicksale der jüdischen Gemeinden Badens und Württembergs und ihrer Opfer vor.
Bei der Dokumentation über die Breisacher, die ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, arbeitet der Förderverein außerdem eng mit dem Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau (Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau) zusammen. Insgesamt konnte so herausgefunden werden, dass 51 Breisacherinnen und Breisacher ab August 1942 über Drancy nach Auschwitz und zwei nach Majdanek deportiert wurden. Weitere fünf Breisacher und Breisacherinnen wurden aus anderen Orten und Ländern nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Auf den kleinen Karteikarten der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau findet sich oft nur ein kurzer Eintrag, der auf eine Liste der Gestapo im Transitlager Drancy verweist (evtl. link oder USHMM Holocaustencyclopedie). In Drancy stellte die deutsche Gestapo mit französischen Kollaborateur:innen die Namenslisten für die Transporte in die Tötungszentren zusammen.
In Auschwitz-Birkenau kamen alle Deportierten auf der “alten Rampe” an, die etwas mehr als einen Kilometer außerhalb des Lagers Birkenau gelegen war. Es wird angenommen, dass die Menschen direkt nach der Ankunft in einer der Gaskammern ermordet wurden, die sich in umgebauten Bauernhäusern befanden (dem “Weißen Haus” und dem “Roten Haus”), bevor die Krematorien II, III, IV und V in Betrieb genommen wurden. Die Mehrzahl der Opfer aus Breisach wurde zwischen August 1942 und März 1943 ermordet.
Abb1.: Sterbeurkunde Salomon Wurmser, Archiwum Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Abb2.: Salomon Wurmser, vor 1937, Sammlung Blaues Haus Breisach.
In den “Sterbebüchern von Auschwitz” findet sich der Name von “Wurmser, Salomon (21.9.1885, Breisach – 25.8.1942) – 24950/1942”
Salomon Wurmser wurde nach seiner Ankunft auf der Alten Rampe am 14. August 1942 von seiner Frau Balbine getrennt und in der “Sauna” als Häftling registriert. Anschließend wurde seine Häftlingsnummer in den Arm tätowiert.
Er wurde gezwungen, schwerste Arbeit zu leisten. Schnell erfuhr er, welchen Alltag voller Terror und Tod die Nationalsozialisten hier eingerichtet hatten.
Sein Tod wurde von Dr. Georg Franz Meyer, einem Arzt der SS, angezeigt und in der amtlichen Sterbeurkunde scheinbar sachlich dokumentiert. Die Eltern Alexander und Hermine Wurmser und seine Frau Balbine Levi wurden korrekt genannt. Seine Adresse in Auschwitz lautete angeblich: “Kasernenstrasse”.
Zwischen der Ankunft von Salomon Wurmser im KZ Auschwitz und seinem Tod lagen nur 12 Tage. Der Diagnose “Herzmuskeldegeneration” als Todesursache sollen wir nicht trauen, sagen uns die Historiker, die in der Gedenkstätte arbeiten, denn die Todesursachen seien in der Regel erfunden worden.
Das Archiv hat auch Sterbeurkunden für die Geschwister Lieselotte und Heinrich Hochherr. Heinrich Hochherr war mit Dr. Margot Bähr aus Breisach verheiratet. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Suzanne Carola (1939–1942) wurden sie im Juli 1942 aus Amsterdam in das Sammellager Westerbork und von dort nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Abb.: Koffer von Jakob Greilsamer in der Gedenkstätte Stammlager
Auschwitz (Foto: Sammlung Blaues Haus Breisach).
Die Nationalsozialisten hatten an der nordwestlichen Auffahrt zum Münsterberg einen roten Kreis um ein Hakenkreuz und darunter “1933” hinterlassen und sich damit selbst heroisiert. Auf Anweisung der französischen Besatzungsmacht wurde 1945 nur das Hakenkreuz entfernt, der Kreis und die Jahreszahl der Machtübertragung an die Nazis blieben.
Jüdische Besucher fragten den Bürgermeister nach ihrem Besuch 2003, ob sich Breisach ausreichend vom Nationalsozialismus distanziere. Eine Texttafel der Stadt Breisach zum Langen Weg, der Auffahrt zum Münsterberg, und zu “1933” in unmittelbarer Nähe aufgestellt, wurde von den jüdischen Gästen abgelehnt. Der Pflasterkreis mit der Jahreszahl 1933 - so der Text auf der Tafel - “erinnert an den Beginn des NS-Regimes und damit an eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und seiner Opfer”. Die jüdischen Besucher:innen fragten, ob hier nicht die Reste der
NS-Inszenierung als Gedenkort an die Opfer beschrieben würden.
Nach der Androhung eines Strafverfahrens gegen die Stadt Breisach durch Andreas Meckel aus Freiburg bat die Stadt das “Institut für Zeitgeschichte München-Berlin” um eine Stellungnahme.
Das Institut antwortete, rechtlich liege kein Straftatbestand vor, wenn der Kreis mit der Jahreszahl 1933 bleibe. Jedoch erfülle die “Informationstafel sowohl unter rechtlichen Kriterien wie auch in geschichtspädagogischer Hinsicht nur die Mindestanforderungen”. Der Stadt Breisach wurde der Rat gegeben, im Museum eine kleine Dauerausstellung zum Thema “Nationalsozialismus in Breisach” einzurichten (Schreiben Dr. Volker Dahm vom 8. Juli 2004). Dieser Vorschlag wurde bislang nicht aufgegriffen. Ein anderer Umgang mit den Relikten der Naziherrschaft wurde erneut im August 2022 in Leserbriefen an die Badische Zeitung gefordert.