Wir bitten Sie das Webzine zur Spurensuche Gurs auf einem Desktop PC/ Mac in einem herkömmlichen Webbrowser zu betrachten. Wir arbeiten an einer mobilen Ansicht für Tablets und Smartphones. Danke für Ihr Verständnis.
Nur kurz nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Januar 1933 setzten auch in Breisach zahlreiche Schikanen gegen die jüdische Bevölkerung ein. Am 31. März marschierte ein Trupp von fanatischen Breisacher Nazis (SA und SS) durch die Stadt und brüllte die Parole, dass es für Juden ab 21 Uhr eine Ausgangssperre gebe. Gleichzeitig wurden die ahnungslosen Juden, die von ihren Arbeitsstellen in Freiburg kamen, am Bahnhof von den Nazis abgefangen und über Nacht im Rheintor (heute Museum für Stadtgeschichte) eingesperrt. Sie kamen erst auf die Intervention des jüdischen Bürgers Ludwig Dreyfuss bei den örtlichen Parteigrößen am nächsten Tag wieder frei, allerdings erst nach Misshandlungen durch den Führer der SS in Breisach, Otto Reichert. Am 1. April 1933 standen vor allen jüdischen Geschäften SA- und SS-Männer in Uniform und verwehrten nicht-jüdischen Kunden den Zutritt. Im Alltagsleben setzten die Nazis die Schikanen, Benachteiligungen und Verfolgungen fort:
Wie reagierten die jüdischen Breisacher:innen auf die einsetzende Verfolgung?
Im Januar 1933 gehörten 250 Bürgerinnen und Bürger zur jüdischen Gemeinde Breisach. Zwei Gruppen waren von den sofort einsetzenden Diskriminierungsmaßnahmen besonders betroffen: die Geschäftsleute und die Akademiker, die keine Anstellung bekamen.
Doch wie Tausende andere Menschen hofften auch viele Jüdinnen und Juden in Breisach anfangs noch, dass die Vernunft siegen werde und die durch die Nazis verbreiteten Schrecken von vorübergehender Natur seien. Die Jahre 1935 und 1936 spielten bei solchen Illusionen eine besondere Rolle: 1935 erhielten Kriegsteilnehmer des 1. Weltkriegs eine von Adolf Hitler unterzeichnete Ehrenurkunde. Während der Ausrichtung der Olympischen Spiele durch Nazideutschland wurden 1936 einige Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt.
Trotzdem gab es, insbesondere für die jungen Menschen, immer weniger Hoffnung auf eine berufliche und familiäre Zukunft. Die besser situierten Geschäftsleute, die über gewachsene Beziehungen nach Frankreich verfügten, wichen mit ihren Familien nach Colmar oder Mulhouse aus. Von dort konnten sie ihre Geschäfte zunächst weiterführen sowie ihre Verwandten und Freunde in der Heimat besuchen. Das betraf sechs Familien und drei Einzelpersonen. Eine Familie zog nach Belgien, das Herkunftsland der Ehefrau.
Mit der Verschärfung der Verfolgung wuchs der Druck zur Flucht, damals “Auswanderung” genannt. Dabei stellten sich schwerwiegende Fragen: Wer nimmt mich oder uns auf, wie bekomme ich die notwendigen Papiere, welche Mittel habe ich zur Verfügung?
Die Auswanderung nach und ein Leben in Palästina war das Ziel einer Gruppe junger Breisacher. Sie bereiteten sich in einem Training auf die landwirtschaftliche Arbeit vor (“Hachschara”). Drei von acht Palästina-Flüchtlingen sind auf dem Gruppenbild, das 1936 oder 1937 entstand, zu sehen. Rolf und Ludwig Eisemann wurden erst 1939 durch jüdische Organisationen bei der Flucht nach Palästina unterstützt.
Abb.: V.l.n.r. Erich Levy, Lothar Geismar, Hans Frank, Ellen Dreyfuss, Ludwig Weil, Else Berta oder Lydia Maier (Emmendingen),
Heinz Bähr, Richard Levy, Martha Maier (Emmendingen), Herbert Blum, Lothar Kleefeld, Alfred Geismar, Ludwig Breisacher,
Hans Blum, Sigmar Breisacher. Vorne: Erich Geismar, Walter Breisacher.
(Hervorgehoben sind die Flüchtlinge, die nach Palästina gingen), Stadtarchiv Breisach.
Wer ein Haus besaß, versuchte Käufer zu finden und musste sein Eigentum meistens unter Wert verkaufen.
Der Terror im November 1938 mit der Zerstörung der Synagogen, massiver Gewalt gegen jüdische Menschen sowie Verhaftungen und KZ-Folter für die Männer sollte Jüdinnen und Juden in die Flucht schlagen. Ihr Eigentum sollten sie weitestgehend Nazideutschland überlassen.
Viele standen vor dem Dilemma, ihre betagten oder kranken Eltern zurücklassen oder die eigenen Kinder in die Hände von Fremden geben zu müssen.
Die Schweiz bot Ende 1938 die Aufnahme von 300 jüdischen Kindern aus Deutschland an. Aus Breisach verließen sieben ihre Elternhäuser und wurden so gerettet. Wer aus der Schweiz stammte oder hier Verwandte hatte, konnte ins Land kommen und eine Ausbildung machen. Zwei Breisacher wurden in England aufgenommen.
Eine Familie, die Großeltern aus Breisach, die Kinder und Enkel aus Waldshut-Tiengen, floh in die damalige britische Kolonie Rhodesien, heute Simbabwe. Vier Geschwister flohen nach Chile, vier Geschwister nach Argentinien, eine Familie nach Kolumbien.
Aber die größte Hoffnung war, die erforderlichen Papiere für eine Flucht in die USA zu bekommen. Gerade, als die Not in Deutschland und Europa für Jüdinnen und Juden immer größer wurde, verschloss die Mehrheit der Länder aber ihre Türen, weitgehend auch die USA. Trotzdem gelang es mehr als elf Familien aus Breisach, dort Aufnahme zu finden: eine Witwe mit ihren beiden Töchtern sowie zehn junge Erwachsene, die ihre Eltern zurücklassen mussten.
Hunderte von überlieferten Briefen erzählen davon, wie die Familien miteinander in Kontakt blieben. In jedem Brief werden Freunde und Nachbarn aus Breisach erwähnt, werden Hoffnung und Verzweiflung ausgedrückt. Auf den Schultern der jungen Menschen, denen die Flucht gelungen war, ruhten meist die Hoffnungen mehrerer zurückgebliebener Familienmitglieder, dass sie die entscheidende Hilfestellung für die Flucht geben könnten. Diese Hoffnungen waren allerdings häufig vergebens.
Zwei betagte, alleinstehende Breisacher wurden von ihren Familien 1939 in das jüdische Altersheim in Gailingen (“Asyl”) am Bodensee gebracht, wo sie noch im selben Jahr verstarben und bestattet wurden.
Zwischen Januar 1933 und Oktober 1940 starben 27 Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Sie wurden auf dem Neuen Friedhof Isenberg bestattet. Bis November 1938 nahm Kantor Michael Eisemann 24 Bestattungen vor. Ob jung oder betagt, alle hatten die enormen seelischen und körperlichen Belastungen der Verfolgung miterlebt.
Fanny Greilsamer nahm sich im Mai 1939 das Leben. Die letzten drei Bestatteten waren im Juni 1939 Leopold Breisacher, Sohn von Wolf Breisacher, und Leopold Breisacher, Sohn von Lehmann Breisacher. Die Stadt Breisach weigerte sich, dafür den Bestattungswagen bereitzustellen.
Diejenigen, die Patienten in Psychiatrischen Kliniken waren, konnten nicht fliehen: Fanny Levi, Corinna Breisacher und die Brüder Hugo und Max Wurmser wurden Opfer der Patientenmorde der Nationalsozialisten (“Euthanasie”).
Nur Selma Ziehler durchlebte mit ihrer Familie als einzige Jüdin die 12 Jahre der Nazidiktatur in ihrer Heimatstadt.
Abb.: Breisach, 10. November 1938: Die Synagoge brennt!
Stadtarchiv Breisach.
Und es kam zu weiteren Ausschreitungen: Auf beiden jüdischen Friedhöfen wurden Grabsteine umgeworfen. In der Judengasse wurden Fensterscheiben eingeworfen; eine jüdische Frau, als sie sich darüber beschwerte, wurde in ihrem Haus geschlagen. Einer Jüdin wurde von einem Feuerwehrmann eine Bierflasche auf den Kopf geschlagen. Kinder und Jugendliche warfen die Scheiben des Krämerladens von Nathan Rosenberg im Bereich Augustinerberg / Sternenhofgasse ein und plünderten es, wobei Umstehende nicht eingriffen. Ein Mann warf einen Fahrradständer in das Schaufenster des Geschäftes von Karl Dreyfuss und zerstörte dabei das Geschirr in der Auslage. Im Geschäft von Siegfried Weil am Gutgesellentor trat ein Mann die Scheiben mit seinen Stiefeln ein. Ein Mann, der als Metzgerbursche im jüdischen Geschäft Bernheim arbeitete, wurde zu einem SS-Mann gebracht und von diesem geohrfeigt. Die Pogromstimmung des Vormittags flammte am Nachmittag oder Abend nochmals auf, als Westwall-Arbeiter das Inventar einer jüdischen Wohnung auf die Straße warfen.
Parallel zum Synagogenbrand wurden am 10. November 38 männliche Mitglieder der Jüdischen Gemeinde an verschiedenen Orten zusammengetrieben und dann unter SS-Bewachung auf dem Marktplatz versammelt. Zur Demütigung wurden sie an der zerstörten Synagoge vorbeigeführt. Dabei trat und schlug der frühere NSDAP-Stützpunkt- bzw. Ortsgruppenleiter Rudolf Diodone mehrere Personen. Schließlich wurden sie zur Nährflockenfabrik am Bahnhof und über Freiburg in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Dort wurden sie drei Wochen und länger gefangen gehalten und gequält. Emil Grumbach und Jakob Bernheim wurden ermordet. Die, die zurückkehrten, waren kahlgeschoren und hatten massiv an Gewicht verloren. Sie waren niedergeschlagen und schweigend. Sie hatten unterschreiben müssen, dass sie über ihre Erfahrungen schweigen würden. Kantor Michael Eisemann kehrte nicht nach Breisach zurück. Er ließ sich auf dem Rückweg ins Freiburger St. Josef-Krankenhaus bringen und tötete sich nach einer Magenoperation Anfang Februar 1939.
Die Gewalt versetzte die jüdische Bevölkerung in einen Schockzustand. An den folgenden Tagen wurden die Ruinen der Synagoge und der Mikwe gesprengt und der Platz eingeebnet. Die Juden sollten für den von ihnen erlittenen Schaden bezahlen! Der Breisacher jüdischen Gemeinde wurden zwei Rechnungen übergeben: Eine über die Kosten für das Benzin, das zum Abbrennen der Synagoge gekauft worden war, und eine weitere in Höhe von 4.500 Reichsmark für den “Abbruch der Synagoge bodeneben” und den “Verdienstausfall der Freiwilligen Feuerwehr bei Brand und Brandwachen”.
Im Januar 1946 begann die Freiburger Staatsanwaltschaft mit umfangreichen Ermittlungen zum Novemberpogrom in Freiburg, Ihringen, Breisach und Eichstetten. Sie gestalteten sich allerdings äußerst schwierig: Die Hauptverantwortlichen Gunst, Weist und Peter waren an der Front gefallen, andere noch in Kriegsgefangenschaft oder in Internierungslagern anderer Besatzungszonen. Viele Zeugen und Verdächtige “mauerten”, andererseits gab es auch falsche Anschuldigungen, die in Sackgassen führten. Erst 1949 wurde am Schwurgericht des Freiburger Landgerichts ein Prozess gegen mehrere der Tatbeteiligten durchgeführt. Ernst Ichterz aus Breisach erhielt die höchste Strafe. Bemerkenswerterweise hatte er weder der Partei noch einer Gliederung angehört. Er wurde zu einem Jahr Gefängnis abzüglich drei Monate Untersuchungshaft verurteilt “wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in rechtlichem Zusammentreffen mit Landfriedensbruch in einem schweren Fall, Religionsbeschimpfung, Zerstörung eines Bauwerks und Beihilfe zur Brandstiftung”. Außerdem wurden Eugen Ziegler (10 Monate), Helmuth Hanke (8 Monate), Adolf Leibiger (7 Monate), Karl Julius Schillinger (5 Monate), Werner Hänsler (2 Monate) und Rudolf Diodone aus Breisach (2 Wochen) verurteilt. Auf die Gefängnisstrafen wurde die Untersuchungshaft angerechnet, außerdem wurden bei der Bemessung die teilweise mehrjährige Kriegsgefangenschaft mildernd berücksichtigt.
Beim Strafmaß blieb das Gericht deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. SS-Obersturmführer Erich Schwarz, für den ein Jahr Gefängnis gefordert worden war, sprach das Gericht sogar trotz erwiesener Tatbeteiligung am Pogrom in Eichstetten frei. Schon vor Prozessbeginn war das Verfahren gegen Otto Reichert eingestellt worden, weil eine strafbare Beteiligung an den Judenverfolgungen nicht ausreichend nachgewiesen werden könne. Dies erscheint gerade im Falle des als fanatisch und brutal bekannten Reichert als nicht nachvollziehbar, zumal ihn mehrere Zeugen als Rädelsführer benannt hatten.
Heinrich Binner, der Haupttäter und hauptamtliche Führer der SA-Standarte, war Ende 1948 zur Fahndung ausgeschrieben worden, wurde aber erst im Juni 1951 in Bayern festgenommen. Bereits Ende Juli wurde er vom Landgericht Freiburg zu einer Gefängnisstrafe von 9 Monaten verurteilt. Auch ihm wurden die 6 Wochen Untersuchungshaft angerechnet. Einerseits wurde er als Rädelsführer eingestuft. Ihm, der als Major der Wehrmacht auch politischer NS-Führungsoffizier gewesen war, wurde allerdings mildernd bescheinigt, ein “Idealist und unpolitischer SA-Führer” gewesen zu sein. Außerdem wurde ihm aufgrund des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 31.12.1949 – in dessen Genuss auch weitere Täter kamen – die Reststrafe auf Bewährung erlassen. Binner war damit sofort wieder frei.
Während also die Brandstifter der Breisacher Synagoge mit geringen Strafen davon kamen, waren die direkten Folgen des psychischen Terrors und der physischen Gewalt gegen die Jüdinnen und Juden gravierend: Wer konnte, betrieb jetzt seine Flucht aus Breisach noch intensiver als vorher.
Abb.: Torawimpel aus der Synagoge von Mackenheim/Elsass, Frankreich.
Mit dem Überfall auf Polen entfesselte Nazideutschland am 1. September 1939 in Europa den Zweiten Weltkrieg. Als Reaktion erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg. Da Breisach in der sogenannten “Roten Zone” lag, also weniger als 10 km entfernt von der Grenze zum Kriegsgegner Frankreich, mussten alle Breisacherinnen und Breisacher innerhalb von Stunden das Notwendigste packen und wurden evakuiert, um sie vor möglichen Kampfhandlungen zu schützen.
Diese Evakuierung traf Juden und Nicht-Juden unterschiedlich: Während die NSDAP für die einen Transport und Unterkünfte (z.B. in Bodenseegemeinden) organisierte, mussten sich – wie Heinrich Himmler angeordnet hatte – die jüdischen Breisacherinnen und Breisacher selbst Unterkünfte suchen. Sie wurden an Orten in Württemberg und Bayern aufgenommen.
Münsterpfarrer Hugo Höfler berichtete, dass Weihnachten 1939 vor dem Münster Weihnachtslieder erklangen, ein Zeichen dafür, dass viele Nicht-Juden bereits zurückgekehrt waren. Die jüdischen Evakuierten verharrten dagegen in der Fremde. Etliche kehrten gar nicht nach Breisach zurück, einige starben dort. Von dem, was die Evakuierten erlebten, erzählen die Briefwechsel der Familien Rosenberg und Uffenheimer. Erst nach dem Waffenstillstand mit Frankreich kehrten Anfang Juli 1940 ungefähr 65 Jüdinnen und Juden nach Breisach zurück. Die meisten fanden ihre Häuser aufgebrochen und teilweise zerstört vor.
Am 12. Oktober 1939 verriet eine gewaltige Detonation, dass die Eisenbahnbrücke auf der französischen Seite gesprengt worden war. Nur acht Tage später sprengten die Deutschen den östlichen Brückenteil. Die Verbindung über den Rhein war zerstört.
Auch in Breisach herrschte mehr als ein halbes Jahr das, was man später als “Drole de Guerre” (deutsch: komischer Krieg oder Sitzkrieg) bezeichnete: die Zeit des Abwartens zwischen dem deutschen Überfall auf Polen und der deutschen Invasion der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Frankreichs, “Westfeldzug” genannt.
Abb1.: DigDoc 025: Zerstörte Rheinbrücke Breisach, französische Seite, Oktober 1939, Stadtarchiv Breisach.
Abb2.: DigDoc 32b: Zerstörte Rheinbrücke Breisach, deutsche Seite, Oktober 1939, Stadtarchiv Breisach.
In den Monaten April bis Juni 1940 gelang der Wehrmacht die Eroberung und Besetzung von sechs west- und nordeuropäischen Staaten: Norwegen und Dänemark im April, die Niederlande, Belgien und Luxemburg im Mai. Die Offensive weitete die deutsche Wehrmacht am 10. Mai auf Frankreich aus. Schon nach sechs Wochen – Paris war am 14. Juni 1940 erobert worden – war Frankreich zu einem Waffenstillstandsvertrag bereit.
Ab Mai 1940 wurde das gesamte Umland Breisachs zum direkten Kriegsgebiet. Der Wehrmacht gelang die Rheinüberquerung zwischen Breisach und Sasbach unter hohen Verlusten mittels Schlauchbooten. Ein Ziel war dabei, die Maginot-Festungswerke der französischen Armee zu zerschlagen. Dieser Angriff – nur Tage vor der Kapitulation Frankreichs – hatte fatale Folgen für die Zivilbevölkerung, die jetzt direkt Opfer der Kriegshandlungen wurde.
Deshalb konnten die Versprechungen gegenüber der Breisacher Bevölkerung, es werde keine zweite Evakuierung geben, nicht eingehalten werden. Der Militärkommandant ordnete zum Schutz der Zivilbevölkerung eine zweite Evakuierung am 3. Juni 1940 an, wiederum an den Bodensee.
Am 22. Juni 1940 wurde der französischen Seite ein Waffenstillstandsabkommen diktiert, das am 25. Juni in Kraft trat. Die Bedingungen waren:
Die nicht-jüdischen Breisacher fanden bei ihrer Rückkehr am 25. Juni 1940, also nach der zweiten Evakuierung, durch französisches Artilleriefeuer zerstörte Häuser vor: 20 waren vollständig zerstört, 200 stark beschädigt. Die Stadt brauchte dringend Wohnraum für die Rückkehrer und entwickelte Begehrlichkeiten nach den Wohnungen der jüdischen Familien, von denen viele durch den Schutz des Münsterbergs unzerstört geblieben waren. Als dann ab Anfang Juli 1940 auch ungefähr 65 jüdische Breisacherinnen und Breisacher aus der (ersten) Evakuierung zurückkehrten, waren etliche ihrer Wohnungen besetzt oder ausgeplündert.
Abb.: Pavillon 13 des Centre Hospitalier Spécialisé de Rouffach, 2020, Sammlung Blaues Haus Breisach.
Ungefähr drei Wochen nach der Rückkehr der jüdischen Bevölkerung aus der kriegsbedingten Evakuierung wurden sie das Opfer einer “wilden” Vertreibungsaktion: Sie wurden kurzerhand in den Pavillon 13 des fast leerstehenden “Centre Psychiatrique” in Rouffach (Rufach) im Elsass verschleppt. “Wild” war diese Aktion in der Hinsicht, dass sie offenbar von örtlichen und regionalen Amtsträgern ausging und durchgeführt wurde, aber nicht mit höheren staatlichen oder Parteistellen abgestimmt war. Sie war, soweit bekannt, die einzige dieser Art im deutschen Westen.
Es muss vermutet werden, dass es einen gezielten Versuch gab, sich als erste Stadt in Südbaden der Jüdinnen und Juden zu entledigen. Dies geschah vermutlich in Kooperation mit Benedikt Kuner. Kuner war eigentlich NSDAP-Kreisleiter von Neustadt im Schwarzwald, aber im Juli 1940 auch als Kreisleiter des elsässischen Kreises Guebwiller (Gebweiler) eingesetzt worden, in dessen Gebiet Rouffach lag.
Anfang September 1940 konnten die verschleppten Jüdinnen und Juden aus Breisach bereits wieder zurückkehren. Nach allem, was bislang bekannt ist, hatte sich vermutlich Folgendes ereignet: Karl Eisemann war ein Mitarbeiter des Oberrats der Israeliten in Karlsruhe und später Leiter der Bezirksstelle Baden der “Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Diese war eine von der Gestapo kontrollierte Zwangsorganisation. Eisemann hatte offenbar von der Verschleppung der Breisacher Juden erfahren und Regierungsrat Carl Dornes vom badischen Innenministerium kontaktiert. Dieser brachte dann bei der Reichsstatthalterei in Karlsruhe in Erfahrung, dass sie in Rouffach gefangen waren. Dornes setzte sich anschließend für ihre Rückkehr nach Breisach ein. Sein Motiv war sicher nicht Mitgefühl für die Juden. Vielmehr musste er eingreifen, weil die höheren Partei- und Regierungsstellen “wilde” Aktionen der lokalen NS-Akteure generell mit Argwohn betrachteten. Bei der Entscheidung, die Juden aus Rouffach zurückzuholen, muss es eine Abstimmung mit der Leitung der Reichsvereinigung in Berlin und den zuständigen Reichsstellen gegeben haben. Aus einem Gesprächsvermerk von Dr. Otto Hirsch, stellvertretender Leiter der Reichsvereinigung, über seine wöchentliche Vorladung vor der Gestapo in Berlin geht hervor, dass bei einem Termin über Rouffach gesprochen worden war. Die Reichsvereinigung hatte bei der Gestapo die Rückgängigmachung der Deportation erreicht. Man kann vermuten, dass Karl Eisemann sich mit der Leitung der Reichsvereinigung in Berlin in Verbindung gesetzt hatte, um sie zu einer Intervention bei der Gestapo zu bewegen. Eisemann händigte den Rückkehrern selbst die Geldbeträge aus, die ihnen vor der Deportation abgenommen und im Rathaus aufbewahrt worden waren.
Allerdings dauerte die Erleichterung über die erneute Rückkehr nach Breisach Anfang September 1940 nur kurz. Die übrig gebliebene Gemeinde konnte noch die hohen jüdischen Feiertage im geheimen Betraum des Gemeindehauses feiern. Nur wenige Wochen später wurden aber 65 Jüdinnen und Juden aus Breisach nach Gurs deportiert. Dies war die Auslöschung der dreihundert Jahre alten, äußerst lebendigen jüdischen Gemeinde in der Rheinstadt. Selma Ziehler (1903–1992), geb. Bergheimer, und ihre Kinder wurden von der Deportation ausgenommen. Ihre Ehe mit einem Katholiken bot ihr vorläufig Schutz.
“Am 22.10.1940 um 7 Uhr morgens wurde ich zusammen mit meiner Frau durch die Gendarmerie festgenommen und nach Südfrankreich gebracht …”, schrieb Berthold Levy an die Entschädigungskammer des Landgerichts Freiburg im März 1954. Mit ihm, seiner Frau und seiner Tochter Gretel ging es weiteren 62 Menschen so: Sie wurden darüber informiert, dass sie nur kurze Zeit dafür hätten, das Nötigste zu packen.
Julius Rosenberg schrieb aus Gurs an seinen Bruder Alfred in den USA: “Meine Lieben Alle! Ich muss Euch leider die traurige Mitteilung machen, daß wir am Dienstag 22/10. von einer Stunde zur anderen von zu Hause fort mussten & nur das Nötigste mitnehmen durften (Handgepäck). Alles Andere mussten wir dem Schicksal überlassen. In Frbg. ist ein Sonderzug zusammengestellt worden & fuhren wir in 4 Tagen & Nächten hierher.”
Münsterpfarrer Hugo Höfler schrieb in seinen Tagebuchaufzeichnungen vom 22. Oktober 1940:
“Heute morgen erzählten mir die Buben in der achten Klasse, daß die Juden geholt worden seien. Später erfuhr ich, daß alle Juden abtransportiert worden seien …. Einige Tage später erzählte mir ein Gewährsmann, der es von einem Begleiter erfuhr, daß sie nach Freiburg gebracht wurden.”
Dr. Johann Peter Loewe war 13 Jahre alt, als er die Deportation beobachtete. Er berichtete: “(...) abtransportiert wurden im Herbst 1940 die letzten Breisacher Juden (...). Es waren alte, arme Leute. Jämmerlich auf dem Marktplatz aufgereiht, neben dem Brunnen auf dem Marktplatz, das war damals (…) ein großer schwerer Blockbrunnen mit einem Standbild (…) vom Großherzog von Baden Friedrich II. (…) Neben diesem Standbild also standen 50 alte Leute mit ihren Koffern und wurden von zwei oder drei SD-Leuten in Zivil auf die Lastwagen gebracht.” (Blaues Heft 1, 2010, S. 38)
Die Sammelpunkte für die Deportierten in Breisach waren der Kupfertorplatz und der Marktplatz.
Die Verhafteten wurden nach Freiburg gebracht und gegen Abend im Löwenbräukeller in der Klarastraße versammelt. Lilli Reckendorf beschreibt, dass dort mit den Freiburger, Sulzburger, Lörracher, Eichstetter und Ihringer Jüdinnen und Juden auch die Breisacher angekommen waren. Am 23. Oktober um 1 Uhr nachts kam der Befehl aufzubrechen. Alle dort Versammelten wurden mit Lastwagen zum 400 Meter entfernten Bahngleis gebracht, wo sie um 2 Uhr in einen Zug aus Offenburg einsteigen mussten. Dieser Zug setzte sich dann in Richtung Breisach in Bewegung.
In diesem Zug befanden sich in den vorderen Waggons Jüdinnen und Juden aus der Stadt und dem Landkreis Offenburg und der Stadt und dem Landkreis Lahr; in den hinteren Waggons saßen die Festgenommenen aus Konstanz und den jüdischen Gemeinden auf der Höri am Bodensee, aus Donaueschingen und Villingen. Diese beiden Zugteile waren in Offenburg zusammengekoppelt worden.
Bis heute liegen keine Dokumente vor, die schlüssig erklären, wie die Verantwortlichkeiten verteilt waren für die minutiöse und heimliche Vorbereitung und Durchführung der Deportation der südwestdeutschen Jüdinnen und Juden. Das gleiche gilt auch für die Fahrpläne und Transportlisten.
Am letzten Tag des jüdischen Laubhüttenfestes, Dienstag, den 22. Oktober 1940, gingen Tausende von Polizisten und SS-Männern in den Morgenstunden in mehr als 230 Orten: Dörfern, Kleinstädten und Großstädten in Baden, der Pfalz und im Saarland in der gleichen Weise vor. Auf der Seite der Täter beteiligt war das Personal der Einwohnermeldeämter, Reiseunternehmen, die Reichsbahn und die Wehrmacht, die Lastwagen bereitstellte.
Abb.: Kurt Salomon Maier mit Schultasche folgt seinen Großeltern zum Lastwagen. Von der Deportation sind Bilder aus insgesamt acht Orten überliefert: aus Bretten, Bruchsal, Gailingen, Kippenheim, Lörrach, Ludwigshafen, Tauberbischofsheim und Weingarten bei Karlsruhe. Foto: Wilhelm Fischer, 22.10.1940, Förderverein Ehemalige Synagoge Kippenheim.
Es wurden an diesem Tag mehr als 6.500 vollkommen unvorbereitete Menschen verhaftet, zu Sammelpunkten gebracht und in insgesamt neun Züge gezwungen.
Nachdem sie aus ihren Wohnungen geholt worden waren, wurden diese versiegelt. Der Hausrat wurde später auf Versteigerungen günstig angeboten. Bevor die Verhafteten die Züge bestiegen, warteten Notare darauf, dass sie eine Erklärung unterschrieben, mit der sie ihr Eigentum an die “Reichsvereinigung” abtraten.
Sieben der neun Züge wurden nach Freiburg geleitet und von dort über die Rheinbrücke bei Breisach in das quasi-annektierte Elsass, das besetzte Frankreich. Von Colmar aus fuhren die Züge nach Südwesten, passierten die Demarkationslinie zum unbesetzten Frankreich und fuhren weiter durch das Rhônetal bis zum Mittelmeer. Von da aus ging es weiter nach Westen über Toulouse bis zum Bahnhof von Oloron-Sainte-Marie, das in der Nähe der Pilgerstadt Lourdes liegt. Dort hielten die Züge.
Zwei Züge mit pfälzischen und saarländischen Jüdinnen und Juden nahmen eine Route nach Westen ins besetzte Lothringen, dann von Metz nach Nancy und weiter nach Süden. Die in Saarbrücken versammelten saarländischen Jüdinnen und Juden wurden in Lastwagen nach Forbach gebracht und mussten dort in einen der beiden Züge steigen. Für die Deportation der Jüdinnen und Juden aus der Pfalz und dem Saarland war Gauleiter Josef Bürckel (1895–1944) verantwortlich.
Ab Dijon liefen die neun Züge auf derselben Strecke. An der Demarkationslinie zwischen besetztem und unbesetztem Frankreich bei Chalon-sur-Saône stand Adolf Eichmann, der Cheforganisator des Holocaust. Eichmann erklärte 1960 in einem Verhör in Israel die Rolle von Robert Wagner als Initiator der “Aktion”, von Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich im Entscheidungsprozess und seine eigene Rolle bei den Vorbereitungen für die Logistik am 22. Oktober 1940 und für das Passieren der Demarkationslinie.
“Glaublich während meiner Madagaskar-Bemühungen wurde eine Evakuierungsaktion (...) aus dem Raum Baden fällig. Der Sachverhalt war folgender: Der Himmler teilte dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD [Reinhard Heydrich] mit, daß der Gauleiter sowieso, der Name ist mir entfallen [gemeint ist hier wahrscheinlich Robert Wagner], bei ihm vorstellig geworden sei, ‘seine Juden’ loszuwerden. Es hieß, Himmler habe dem zugestimmt und angeordnet, daß diese in das unbesetzte französische Gebiet zu fahren seien. Mein Dezernat, also IV B 4, mußte beim Reichsverkehrsministerium die Eisenbahnzüge bestellen und die Strecke wurde von diesem Ministerium auf einer sogenannten Fahrplankonferenz glaublich über Châlons-sur-Marne [gemeint war Chalon-sur-Saône] festgelegt. (…)
Mir wurde eingeschärft, daß diese Züge nirgends auf dem besetzten Teil stehenbleiben. Doch am Grenzbahnhof mußte ich erkennen, dass die Aufgabe schier unlöslich war, vier oder sechs Transportzüge – es waren Personenwagen – über die Demarkationslinie zu schieben. (…) Wie ich auf die Idee kam, die Transporte dem Bahnhofsvorsteher auf dem letzten Bahnhof des besetzten französischen Teils als ‘Wehrmachtstransporte’ zu deklarieren, und warum der Bahnhofsvorsteher mir glaubte und die Züge weiterschickte, (…) weiß ich heute nicht mehr. (…) Nach Passieren des letzten Zuges setzte ich mich schweißgebadet in meinen Wagen und fuhr schleunigst ab. Die Schwierigkeiten, die sich dann später auftaten, mußte das Auswärtige Amt mit der französischen Regierung in Vichy klären.”
(zitiert nach: Jochen von Lang (Hg.): Das Eichmann Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Frankfurt
1982, S. 65ff.)
Bei den Planungen der führenden Nationalsozialisten wurde zu diesem Zeitpunkt eine Zwangsumsiedlung der jüdischen Bevölkerung Europas auf einen anderen Kontinent in Betracht gezogen. In ihrer Sprache hieß das “territoriale Endlösung der Judenfrage”. Mitte 1940 gaben sie beim Auswärtigen Amt die Ausarbeitung eines Plans für die französische Kolonie Madagaskar in Auftrag, die in ein gewaltiges Ghetto bzw. Reservat verwandelt werden sollte. Der im Juli 1940 veröffentlichte Plan fand zunächst die Zustimmung von Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich. Adolf Eichmann arbeitete logistische Details aus. Nach diesen Planungen war es vorgesehen, die jüdischen Häftlinge im Lager Gurs zu einem späteren Zeitpunkt auf die Insel Madagaskar zu verschiffen. Jedoch fehlten die Voraussetzungen für die Umsetzung. Zwar unterstand die Kolonie nach dem Waffenstillstandsvertrag dem von Nazi-Deutschland abhängigen Vichy-Frankreich, aber Deutschland befand sich im Krieg mit Großbritannien und besaß nicht die Hoheit über die Seewege. Der Plan wurde nach dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion nicht weiter verfolgt und Anfang 1942 völlig aufgegeben.
Sechs der sieben Züge mit den badischen Jüdinnen und Juden passierten Freiburg, ein weiterer wurde dort eingesetzt. Diese sieben Züge wurden über die Rheinbrücke bei Breisach geleitet, von wo die Deportierten – entsprechend der Tageszeit – den “letzten Blick auf die Heimat” hatten. Nur diese Brücke war als Notbrücke für den Zugverkehr repariert und am 25. Juli 1940 eröffnet worden.
Das Team des Blauen Hauses suchte in zahlreichen Publikationen zur Deportation nach Hinweisen auf den organisatorischen Ablauf, sowohl in Berichten der Zeug:innen als auch in den Arbeiten von Historiker:innen. Der Schwerpunkt der Suche lag hierbei auf Informationen über die Sammelpunkte, bevor die Menschen einen der sieben Züge besteigen mussten. Auch die Zeitpunkte, wann und in welcher Reihenfolge sich die Züge in Bewegung setzten, wurden vermerkt.
Die Darstellung “Die Fahrt der sieben Deportationszüge aus Baden zum Internierungslager Gurs im Oktober 1940” zeigt den Stand der Forschung im November 2022 und die daraus abgeleiteten Annahmen. Sie bietet die Möglichkeit, die Forschung zu vertiefen und zu verbessern. Hinweise und Kommentare können gerne gerichtet werden an: info@blaueshausbreisach.de