Blaues Haus Breisach

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Das Internierungslager
Gurs 1940 bis 1942 

Entstehung des Lagers

Für Tausende von Menschen war Frankreich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Exilland geworden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, eine Losung der französischen Revolution, zog Menschen in Bedrängnis an. Aus Osteuropa kamen Tausende jüdische Flüchtlinge nach Frankreich, nach dem Januar 1933 auch aus Deutschland. Die Politik der französischen Regierung gegenüber Flüchtlingen verschärfte sich jedoch nach 1934. 

Das Lager Gurs am Nordrand der Pyrenäen wurde neben vielen anderen Lagern in Südfrankreich eingerichtet und im April 1939 eröffnet, um Spanier und Angehörige der Internationalen Brigaden aufzunehmen, die nach dem Sieg der Faschisten unter Diktator Francisco Franco im spanischen Bürgerkrieg flohen. Gurs war das größte von allen Lagern, in dem “unerwünschte Ausländer” interniert wurden. Die meisten Lager wurden rasch eingerichtet und waren Provisorien. 

Bis zum Winter 1939 hatten die meisten spanischen Flüchtlinge das Lager Gurs wieder verlassen. In der nächsten Phase der Lagergeschichte ab Mai 1940 wurden hier Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich interniert, viele davon Juden; dann, während der Kriegswochen im Mai und Juni 1940 massenhaft sogenannte “Staatsfeinde”, die “Unerwünschten”. Die Zahl der Gefangenen stieg rasch um das Zehnfache von 1.500 auf 12.000 Menschen. Viele von ihnen konnten im Juli das Lager wieder verlassen. 

Entsprechend dem deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrag entstand eine scheinbar “freie Zone” im Süden Frankreichs, die von der französischen Regierung unter Philippe Pétain verwaltet wurde. Vichy wurde zur Hauptstadt des “État francais”. Mit den deutschen Besatzern entstand eine Kollaboration. Charles de Gaulle akzeptierte den Waffenstillstandsvertrag nicht, floh nach London und leitete dort die französische Exilregierung. 

Unter Philippe Pétain wandelte sich auch das Lagersystem. Die zunächst provisorischen Lager wurden auf Dauer zu einem Instrument, um “Fremde” und “Staatsfeinde” gefangen zu halten: ausländische Juden, Widerstandskämpfer, spanische Flüchtlinge. 

Die Entscheidung, tausende von Jüdinnen und Juden aus Elsass und Lothringen nach Vichy-Frankreich abzuschieben, trafen die Nationalsozialisten nach dem Waffenstillstandsvertrag. Diese Menschen wurden nicht interniert. Sie mussten aber selbst schauen, wie sie überleben konnten. Viele bekamen Unterstützung von französischen Helferinnen und Helfern. Aber viele wurden dann später bei Razzien der Deutschen gefangen genommen und in die Tötungszentren, meistens nach Auschwitz-Birkenau, deportiert und ermordet. 

Auch die Entscheidung zur Deportation der jüdischen Bevölkerung aus den beiden Gauen Baden und Saarpfalz wurde von den Nationalsozialisten getroffen. Dagegen ordneten die französischen Behörden - von diesen Ereignissen völlig überrascht - an, die neun Züge mit den mehr als 6.500 südwestdeutschen Jüdinnen und Juden nach der Überquerung der Demarkationslinie in das Lager Gurs zu leiten. 

Diese Deportation war die dritte Massendeportation von jüdischen Menschen aus dem Reichsgebiet. Vorangegangen war die Abschiebung von ungefähr 17.000 polnischen Staatsbürgern Ende Oktober 1938 in das Niemandsland zwischen Deutschland und Polen. Diese sogenannte “Polenaktion” gehört zur Vorgeschichte des Terrors im November 1938. Und Anfang Februar 1940 wurden 1.200 jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Stettin in die Nähe von Lublin deportiert.

Das Lager 

Das Lager Gurs war für ungefähr 18.000 Internierte geplant und bestand aus 13 Ilots, die rechts und links einer asphaltierten Lagerstraße errichtet wurden. Ein Ilot, französisch für “Häuserblock”, bildete 25 oder 30 Baracken. Das Lager bestand aus insgesamt 382 Baracken mit den Maßen 24 x 6 Meter Grundfläche und 2,50 Meter Höhe, dazu 46 Baracken für die Militärverwaltung. Paare wurden getrennt untergebracht, es gab neun Ilots für Männer, vier für Frauen. Das Lagergelände war mit Stacheldraht eingezäunt. In einer Baracke wurden 50 bis 60 Internierte untergebracht, jedem standen etwa 0,7 x 2 Meter Fläche zur Verfügung. Jedes Ilot hatte eine Krankenstation, Latrinen und eine Baracke mit Duschen und einen Schuppen, der als Küche diente. Die aus Holz gebauten Baracken waren schlecht isoliert, es gab Luken, keine Glasfenster und einen Ofen für jede Baracke, der nicht ausreichend Wärme gab.

Abb.: Das Lager Gurs, Plan der Ilots, in: LpB Baden-Württemberg Heft 12-2020, S. 43.

Menschen aus Breisach im Lager Gurs

Abb.: Serviettenring von Else Dreyfuss hergestellt im Lager Gurs.

“Menschen aus Breisach im Camp de Gurs” – so überschrieb der 1900 in Breisach geborene und 1993 ebenfalls dort gestorbene Ludwig Dreyfuss das letzte Kapitel des Buches mit den Erinnerungen an seine Flucht und sein Überleben: “Emigration – nur ein Wort?”. Er verließ als erster Breisacher Anfang Juni 1933 seine Heimat und fand Arbeit in Frankreich. Seine Verlobte Mathilde Clorer folgte ihm. Im Oktober 1940 suchten das Paar und Ludwigs Bruder Kurt eine Bleibe in der Nähe der südfranzösischen Stadt Pau und erfuhren, dass nicht weit von ihnen Mutter, Schwester, Verwandte und Freunde aus Breisach im Camp de Gurs gefangen waren. 

Es gelang Ludwig Dreyfuss, gekleidet in die Uniform eines Fremdenlegionärs, Dauerpassierscheine für das Lager zu erhalten. So fand er seine Mutter Klara und seine Schwester Else im Ilot I 5.

Bis März 1941 wurden Ludwig und Mathilde Dreyfuss Zeugen der grausamen Bedingungen im Lager und halfen: Sie organisierten – mit Unterstützung der französischen Bevölkerung – Lebens- und Arzneimittel für die Internierten. Dabei trafen sie auch auf Egon Blozheimer, einen weiteren Breisacher, der nach Wegen suchte, seinen Angehörigen und Freunden zu helfen. Nicht retten konnte Ludwig Dreyfuss seine Schwester Else, die Anfang 1941 an einer Lungenentzündung starb. Wie Else starben viele Menschen an den Lebensbedingungen im Lager: an Kälte, Hunger und mangelnder Hygiene, an Krankheiten wie Blasenentzündungen, Bronchitis und unversorgten Schnittwunden, am häufigsten an der Ruhr, die auch “Lagerkrankheit” genannt wurde. Lagen Vorerkrankungen wie Diabetes, Asthma oder Herzschwäche vor, so stieg die Wahrscheinlichkeit nochmals, im Lager zu sterben. Allein in den Monaten November und Dezember 1940 starben im Lager Gurs 468 Menschen. 

Während sich die Lebensumstände ab Frühjahr 1941 für viele der Gefangenen verbesserten und einige Glückliche den Weg aus dem Lager in die Freiheit antreten konnten, verdüsterten sich für die meisten die Aussichten, das Lager verlassen zu können.

Exkurs: Radikalisierung der Verfolgungspolitik im besetzten Europa 1941 und 1942

Die Pläne der Nationalsozialisten gegenüber den europäischen Juden, den Sinti und Roma, den politischen Eliten der angegriffenen Länder und anderen Minderheiten radikalisierten sich rasch. Der Krieg, den Nazideutschland 1939 entfesselt hatte, bot immer neue Möglichkeiten, hinter der Front in den besetzten Ländern lange vorgedachte Mordpläne umzusetzen. 

Schon bei der Einverleibung Österreichs 1938 und dem “Anschluß” des Sudetenlandes waren Spezialeinheiten beauftragt worden, jegliche Gegenwehr radikal zu bekämpfen; genauso war es beim Einmarsch der Wehrmacht in Polen. Bei dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 folgten der schnell vorrückenden Wehrmacht die “Einsatzgruppen”, die sich aus Angehörigen der Sicherheits- und Ordnungspolizei sowie der Waffen-SS zusammensetzten. Ihre Aufgabe war es, politische Gegner und besonders die jüdische Bevölkerung zu töten. Heutige Schätzungen nennen zwischen eine bis eineinhalb Millionen Jüdinnen und Juden, die zwischen 1941 und 1944 im “Holocaust durch Kugeln” getötet wurden. 

Nur wenige Monate nach Kriegsbeginn 1939 gab Reichsführer-SS Heinrich Himmler den Auftrag zu prüfen, ob sich die bestehenden Kasernen in Oświęcim (Auschwitz) für die Anlage eines Konzentrationslagers eignen würden. Schon im Mai 1940 wurden die ersten Häftlinge eingewiesen, die die Aufgabe hatten, das Lager auszubauen und einzurichten. Zunächst war das Konzentrationslager Auschwitz ein Lager vor allem für polnische Oppositionelle. Bald gab Heinrich Himmler den Befehl, ein weiteres Lager in 1,5 km Entfernung zu errichten: Auschwitz-Birkenau. Die ersten Morde mit Gas fanden im Stammlager Auschwitz in der zweiten Hälfte 1941 statt. Die ersten Vergasungen von Häftlingen mit Zyklon B fanden in Birkenau ab März 1942 in umgebauten Bauernhöfen (“Rotes Haus” und “Weißes Haus”) statt. 

Auf Einladung von Reinhard Heydrich fand eine Besprechung hochrangiger Partei- und Staatsfunktionäre in einer Villa am Wannsee in Berlin am 20. Januar 1942 statt. Sie diente dazu, die verschiedenen Behörden zu koordinieren, die an der Ermordung von (geplant) 11 Millionen europäischen Juden beteiligt werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Breisacher mit den badischen, pfälzischen und saarländischen Jüdinnen und Juden in Gurs und anderen südfranzösischen Lagern gefangen. Und aus vielen deutschen Großstädten waren bereits im November 1941 Deportationszüge ins besetzte Baltikum geschickt worden. 

Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann waren die Hauptorganisatoren der Mordwelle an der europäischen jüdischen Bevölkerung ab Ende 1941. Sie ließen weitere Tötungszentren im besetzten Polen errichten: die Konzentrationslager Majdanek, Chełmno, Belzec, Sobibor und Treblinka. Um den Massenmord möglich zu machen, mussten alle Institutionen der Nazi-Herrschaft, insbesondere die Deutsche Reichsbahn, unterstützen. 

Auch für die in den südfranzösischen Lagern Gefangenen bedeutete die Errichtung dieser Lager das endgültige Todesurteil.

Radikalisierung in Frankreich 

Der Holocaust-Forscher Raul Hilberg kam zu folgender Einschätzung der deutsch-französischen Kollaboration bei den Deportationen aus Frankreich: “Der antijüdische Vernichtungsprozeß in Frankreich war ein Produkt des deutsch-französischen Waffenstillstands. (…) Zwischen 1940 und 1944 manifestierte sich diese ungleiche Beziehung zwischen Sieger und Besiegtem in einer Flut von deutschen Forderungen, die nicht ohne weiteres missachtet werden konnten. Die Vernichtung der in Frankreich lebenden Juden war eine dieser Forderungen.” 

Zunächst habe die Vichy-Regierung in Reaktion auf den deutschen Druck versucht, die antijüdischen Maßnahmen in Grenzen zu halten. 

“Als 1942 (nach der Wannsee-Konferenz, d. V.) der deutsche Druck zunahm, zog sich die Vichy-Regierung hinter eine zweite Verteidigungslinie zurück – sie gab die ausländischen und neu eingewanderten Juden preis und beschränkte sich darauf, die einheimischen Juden zu schützen. (…) Durch Verzicht auf einen Teil wurde das Ganze weitgehend gerettet. (…) Der französischen Bürokratie fiel die Aufgabe zu, einen Großteil des Vernichtungswerks selbst zu erledigen (...) es gab Augenblicke, in denen das Regime schärfer gegen die Juden vorging, als es die Deutschen hätten erzwingen können.” (Raul Hilberg) 

Gegen die vielen Tausend Jüdinnen und Juden, die zum Teil seit Jahrzehnten in Frankreich lebten und hier Familien gegründet hatten, wurden Großrazzien organisiert, um sie nach Auschwitz zu deportieren. Bei der berüchtigten Raffle Vél d'Hiv' am 16. und 17. Juli 1942 in Paris wurden mehr als 13.000 Jüdinnen und Juden, darunter 4.000 Kinder, verhaftet und deportiert. 

Zu den ausländischen Juden zählten die deutschen Besatzer auch die nach Südfrankreich deportierten badischen, pfälzischen und saarländischen Jüdinnen und Juden. 

Die deutschen Besatzer forderten nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 die Herausgabe der jüdischen Internierten aus den Lagern in Südfrankreich, um sie in das Konzentrations- und Sammellager Drancy bei Paris zu bringen. Dort wurden die Transporte (Convois) in die Tötungszentren, vor allem in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, zusammengestellt.

Der erste Transport fuhr am 27. März 1942 in Drancy ab. Bis zum 17. August 1944 verließen 79 Transporte mit jeweils knapp 1.000 Menschen Frankreich. Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war mit 73 Transporten das Hauptziel dieser Deportationen. Vier Transporte wurden nach Sobibor und Majdanek, ein Transport nach Kaunas und ein Transport ins KZ Buchenwald geleitet. 68 der 79 Transporte wurden im Sammellager Drancy zusammengestellt, 11 Transporte in anderen Lagern. Von den 73.853 Deportierten wurden 43.441 Menschen direkt nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet.

Von den 73.853 Deportierten wurden
43.441 Menschen direkt nach der Ankunft
in den Gaskammern ermordet.

Die Karten zeigen die sich verschärfende Situation nach der Besetzung Vichy-Frankreichs durch die Deutschen für alle Gefangenen in Lagern und Gefängnissen, für die Widerstandskämpfer:innen und für alle Versteckten und illegal Lebenden.

STIMMEN AUS GURS IN BRIEFEN

Im Archiv des Blauen Hauses befinden sich 13 Briefsammlungen (Stand August 2022), welche die Korrespondenz Internierter aus Breisach mit ihren Angehörigen enthalten. Im Folgenden werden Briefauszüge von Breisacherinnen und Breisachern vorgestellt, die entweder aus dem Lager gerettet oder nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden sowie von Berthold Levy, der die Lager in Südfrankreich überlebte und in seine Heimatstadt zurückkehrte. Sie geben beispielhaft Einblicke in den Lageralltag, in die Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen und ihre Beziehungen untereinander.

Abb.: Berthold und Julie Levy, Sammlung Blaues Haus Breisach.

Briefe eines Rückkehrers

Berthold Levy (1879–1957) war in Breisach unter dem Spitznamen “Bäckermännle” (oder “Beckemennle”) wohlbekannt. Der Mehl- und Getreidehändler wurde mit seiner Ehefrau Julie Levy (1877–1942) und der 14-jährigen Tochter Margarete (auch Gretel genannt, 1926–2020) 1940 nach Gurs deportiert. Von dort wurden sie weiter in das Lager Rivesaltes verlegt, wo Julie Levy im kalten Januar 1942 starb.

Berthold Levy gehörte zur Minderheit der Überlebenden, die nach 1945 wieder in Deutschland lebten. 1957 starb er im Alter von 87 Jahren in Breisach.

Von ihren sechs Kindern überlebten drei nicht: Rina Levy, die zunächst nach Belgien flüchtete, wurde in Frankfurt am Main verhaftet und deportiert; Rosa Levy in Fürth; Erich Levy in Berlin.

Dagegen konnte sich Betty Levy, später Betty Hoffmann, 1937 nach England retten. Bruno Levy kämpfte in der französischen Resistance und lebte eine Zeitlang in der Nähe des Vaters in Freiburg und Breisach. Später emigrierte er zunächst nach Kanada und dann in die USA, wo er bis 1980 lebte. Margarete Levy, später Margarete Foucher, überlebte als Jugendliche mehrere Internierungslager in Frankreich. Ihr Glück und ihre Rettung war ein französisches Kinderheim in Moissac. In Frankreich lebte sie noch lange mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern Alain (*1952) und Frederik (*1974) Foucher.

Von Familie Levy sind einige Briefe, Telegramme, Postkarten sowie Formularbriefe des Deutschen Roten Kreuzes erhalten. Darin informierten sie sich gegenseitig, wen es wohin verschlagen hatte und von wem man glücklicherweise noch ein Lebenszeichen bekam.

Fünf Monate nach der Deportation nach Gurs schrieb der bereits 70-jährige Berthold Levy an Betty Levy in London:

Camp Rivesaltes 24.3.41

Meine liebe Betty! 

Schon sehr lange hören wir gar nichts von Dir hoffen jedoch daß es Dir gut geht und [Du] gesund bist. Inzwischen hast Du von unserm Unglück gehört und sind wir im zweiten Camp angekommen.

Wir sind ein[ig]ermaßen noch am Leben, haben jedoch bedeutend am Körper abgenommen. [...] [...] denke an uns und l. Gretel[.] Wir haben alles zurücklassen müssen und [sind] nur mit dem Allernötigsten von zu Hause in einer Stunde fortgejagt worden. Du kannst Dir nun denken wie es uns zu Mute ist.

Von l. Bruno hören wir jeden Monat, er ist in Marok[k]o Soldat und [es] geht ihm gut. Von l. Rina haben [wir] schon langenichts mehr gehört, soll noch in Antwerpen sein. Adresse: Karlin Günzburg 27 Stierstraat[.]

Wenn Du schreiben willst, l. Betty[,] schreibe uns recht bald, Luftpost, denn sonst ein Brief 2 Monate dauert.Die l. Mama & Gretel sind ¼ Stunde von mir in einer Baraque und kann ich jeden Tag von 2 – 6 Uhr zu Ihnen. L. Rosa ist noch in Fürt[h] Adresse Lindenstr. 22.L. Erich ist noch in Berlin und haben wir schon lange keine Post von Ihnen.[...]

Die letzte Nachricht von Dir haben wir in München bekommen, dort war es noch schön[.] Ich habe Dir vor 4 Wochen eine Postkarte gesandt, ob Du dieselbe bekommen hast? Wir haben ein trauriges Los in unserm Alter[.] L. Betty schreib uns einen ausführlichen Brief und zwar sofort nach Erhalt wie es Dir geht.

Inzwischen empfange noch herzliche Grüße und 1000 Küsse von Deinem alten Vater – – –

Abb.: Mathilde, Hans und Ludwig Blum, Basel 1946, Sammlung Blaues Haus Breisach.

Briefe von Geretteten

Zu den Deportierten gehörten auch Mathilde (1877–1960) und Ludwig Blum (1871–1951), ein Viehhändler. Ihre vier Kinder waren bereits in der Schweiz und den USA in Sicherheit. In mehr als vierzig Briefen aus dem Lager, vor allem an den jüngsten Sohn Hans David (1919–2009) in Basel, beschrieben sie die Härte des Alltags in Gurs. Ihre Verwandten in Basel erreichten ihre Freilassung im Oktober 1941. Mathilde, Ludwig und Hans Blum emigrierten 1946 aus Basel nach New York und trafen in der neuen Heimat ihre Kinder bzw. Geschwister.

Mathilde Blum schrieb ihre Briefe meistens nachts, oft bei großer Kälte. Viele Briefe im Winter endeten mit ‘steifen Fingern’. Sie zeigen, dass sie gerne teilte, sowohl Lebensmittel als auch Geld. Das ist beeindruckend an ihren Briefen.

Transkript:


Meine Lieben Allen!    
 
Camp de Gurs den 12 Dezb. 40

Hoff Euch Alle in bester Gesundheit, das gleich von uns Gottlob auch wieder sagen kann[,] lb. Papa war nähmil [nämlich] auch erkältet, es ist auch kein Wunder es regnet schon 14 Tg [Tage] unaufhörlich, auch haben schon Blitz Donner u. Hagel dazu u. Schuh hoch Sch[l]am[m] dass man manchmal Hilfe braucht rauszukommen[,] wenn man auf den Abort will, ist wie wenn man zu Sickebäcker in Emd [Emmendingen] will.

Zum kleinen Geschäft haben jetzt alle einen Eimer vor der Thüre für Nachts[.] Man bleibt in der Baraque, wenn man nicht notig muss. Zum wa[s]chen ist es auch weit, nähmlich sich zum waschen kann aber nur von 7 bis 10 Uhr morgen[s,] von 5 bis 7 Uhr aben[d]s. auch zur Wäsche waschen dasselbe[,] von warmem Wasser für die Wäsche ist nicht daran zu denken[.] im freien ist ein Drog binn so froh um Recha [Vorname] ich kön[n]te nicht im kalten Wasser waschen. auch schicke sie meistens an das Stacheltraht zu lb. Papa.

In der Baraque ist ein kleines eisernes Öfele, wo man jeden Tag mit abgezählten stücken 50 cm langes grünes Holz feuern muss[;] obendrauf kann man manchmal Kaffee oder Tee kochen auch Nudeln Gries Reis, was die Leute geschickt bekommen in den Packete. Recha hat zur Zeit von Max [wohl: Max Bloch] viele Spezerei bekommen wo ich als davon bekomme.

Sitzen Alle auf ihrem Strohsack welcher morgens zusammengerollt wird wie eine Schlumrolle, legen unsere Decken zusammen u. sitzen Tagsüber drauf. lb. Lui hat mir diese Woche einen Stuhl von den Arbeiter[n] gekauft [(darüber:) 30 fr] schreibe gerade darauf u. habe eine Kerze brennen ist 8 Uhr Aben[d]s. Morgens gibts als Kaffe oder Kaffee 11 Uhr 1 Stück Brot für den ganzen Tag, 1 Uhr Suppe u. Nachts wieder Suppe u. ein kleines Stückle Fleisch wer halt noch was geschickt bekommt ist reifer.

Manchmal (1 mal in der Woche) kommt etwas in die Baraque wo die Baraquen Cheffin in der Kantine einkaufen kann. haben 60 Personen in jede Baraque u. sind 23 Baraquen in jedem Ilot. dazu [?] trifft einem sehr wenig 1 Apfel 1 Manderine 1 Paar Feigen oder Datteln oder Rosinen und alle paar Wochen ¼ Wein. habe heute durch Recha den Wein lb. Papa geschickt durchs Stacheltraht gegeben.

Wissenswertes zu diesem Brief:

Mathilde Blum erwähnte immer wieder die schlimme Kälte im Winter, den anhaltenden Regen und den kniehohen Matsch. Ebenso die Schwierigkeiten, zu den Baracken in einem anderen Ilot zu gelangen: Meist benötigte man dazu einen Passierschein. Ehepaare wurden getrennt. Nach der Ankunft in Gurs konnte es viele Wochen dauern, bis sie sich endlich wieder einmal – kurz – treffen konnten: “(...) heute durch Recha den Wein lb. Papa geschickt durchs Stacheltraht gegeben (…).”

Liste der Gurs-Überlebenden / Geretteten:

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Briefe von in Auschwitz Ermordeten

Rosa Geismar, geb. Uffenheimer (1879–1942), wurde gemeinsam mit ihrer in Karlsruhe lebenden Tochter, Erna Maier, geb. Geismar (1903–1942) und ihrem Enkel Hans-Jürgen Maier (1929–1942) aus Karlsruhe nach Gurs deportiert. 1939 hatten sie noch vergeblich versucht, in die USA zu flüchten. Das scheiterte, als ihre Bürgen und Bürgschaften plötzlich nicht mehr anerkannt wurden, weil sich die Gesetzeslage in den USA (wieder einmal) verändert hatte.

In Gurs kam der 11-jährige Hans-Jürgen Maier gemeinsam mit seiner Mutter und Großmutter in eine Frauen-Baracke. Dort erlebte er seine beginnende Pubertät und kurz nach dem 13. Geburtstag die Feier seiner Bar Mizwah, der religiösen Mündigkeit. im August 1942 wurden alle drei nach Auschwitz deportiert und dort wohl sofort ermordet.

Erhalten geblieben sind viele Briefe aus Gurs an den Sohn und Bruder, Lothar Geismar (1905–1998). Er war bereits ca. 1933 nach Lissabon emigriert.

Lothar Geismar aus Breisach gehörte zu den vielen wichtigen Helfern in Portugal (und in anderen Ländern), die heute leider viel zu wenig bekannt sind. Unentwegt schickten sie überlebenswichtige Pakete nach Gurs, oft unterstützt durch Geldsendungen aus den USA. Und sie waren auch behilflich bei der Besorgung der notwendigen Bürgschaften, von Einwanderungspapieren und Schiffsplätzen.Die Stimmung in den Briefen, die Lothar Geismar von seiner Schwester und seiner Mutter aus Gurs erhielt, schwankte immer wieder zwischen Hoffnung (auf Auswanderung) und Ärger und großer Enttäuschung, weil die Auswanderung nicht gelang.

Transkript:

[BHB B6-15b; Erna Maier]          
Camp de Gurs, 31.XII.41

Wir erhielten dieser Tage von der Hicem aus Marseille die Nachricht, dass unsere [Schiffs-]Passa-gen geregelt seien, d.h. sie sind bezahlt und sobald ein Schiffsplatz verfügbar ist, werden sie für uns buchen; heute hörte man hier aus Briefen aus Marseille daß der Transit Spanien Portugal wieder ge-nehmigt sei, das wäre ja zu schön, wenn dies wahr wäre;


[BHB B6-34a; Erna Maier]                
30.6.42

[…] Wir hatten eine sehr schöne Barmizwah, wie wir uns es uns nie vorgestellt hätten; Jürgen hat seine Paisehe [Parasha oder Parascha – Leseabschnitt nach babylonischer Ordnung im masoretischen Text der Tora] sehr schön gesagt, und der Rabbiner hat ihm eine zu Herzen gehende Ansprache gehalten; er hat sehr viel Geschenke bekommen, das hätte er sich nicht träumen lassen. Am Tag darauf haben wir alle Verwandten und Bekannten zu einem Kaffee eingeladen (23 Personen); Arthurs waren 2 Tage vorher da und haben uns unter anderem auch Brot gebracht. Von Dir hatten wir noch Sardinen aufgehoben und den letzten Kaffee, und so haben wir sehr schön gefeiert und alle sprechen heute noch davon, wie schön es war. Aber jetzt fehlt es uns wieder überall und sind wir wieder sehr auf Dich angewiesen, 

[…] In Frankreich geht jede Kleinigkeit auf Karten, Obst und Gemüse sind nicht zu haben, und was man kaufen˟ könnte kostet das 20 faches des regulären Preises (˟Lechem) Wir lassen uns das Geld von Egon [Blozheimer] kommen, schicken brauchst Du keines.Lb. Lothar, hier erzählt man sich, daß ab Juli wieder alles von Portu-gal geschickt werden kann, da wären wir glücklich und dankbar für Kakao Schok[olade] Kaffee, Tee, Sacharin, Reis, Gries, Maccaroni etc. stimmt das auch? [...]Bleib weiter gesund, herzliche Grüße und Küsse von Deiner Erna.

Diesen letzten Brief aus Gurs schrieb Erna Maier, nachdem sie erfuhr, dass sie mit ihrer Mutter und ihrem Sohn aus dem Lager Gurs abreisen müsse. Sie hatte vergebens auf die Ausweispapiere gewartet.Großmutter, Tochter und Enkel wurden in das Konzentrations- und Sammellager Drancy bei Paris gebracht und am 10. August 1942 mit dem 17. Transport aus Frankreich in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Es war der erste Transport aus Frankreich, in dem sich auch Jüdinnen und Juden aus Baden befanden. 

Der Brief ist ein Dokument ihrer Verzweiflung.

Transkript:

Lieber Lothar.         5.8.42.

Wir sind ganz verzweifelt, heute müssen wir fort und wissen nicht wohin; vor 2 Tagen kam unsere Vorladung [zum Konsulat in Marseille],es nützt uns aber nichts.

[…] um Gottes willen schreib regelmäßig! wenn es nicht anders geht, übers Rote Kreuz.

[…] Wir haben alles Pech von der Welt. Ich hoffe, wir können bald wieder von uns hören lassen. Innige Grüße und Küsse

Deine Erna. 
Gruß und Kuß, Jürgen

Liste der nach Auschwitz Deportierten Breisacher:innen

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In Gurs gestorben

Abb. links: Deportierten Friedhof Gurs, 2022

Von den 113 deportierten Breisacherinnen und Breisachern starben 32 in Gurs und anderen Internierungslagern in Südfrankreich (Noé, Récébédou), meist ältere Frauen und Männer. Die Beisetzungen auf dem Lagerfriedhof führten Angehörige und frühere Nachbarn aus den verschiedenen Ilots zusammen, da für die Teilnahme Passierscheine ausgestellt wurden. Bereits innerhalb der ersten drei Monate starben sechs Mitglieder der Breisacher Jüdischen Gemeinde: Benjamin Breisacher und seine Frau Mathilde, Fanny Grumbach, Minna Lazarus, Anna Uffenheimer sowie Hermann Bähr.

“(…) schreiend [lief] Fanny Bähr, begleitet von ihrer Tochter Ruth, an uns vorüber. Sie hatten soeben die Nachricht erhalten, daß ihr Mann und Vater Hermann Bähr in der Hauptkrankenbaracke gestorben sei”, berichtet Ludwig Dreyfuss in seinem Buch.


Das Grab von Hermann befindet sich mit weiteren 21 Gräbern von Breisacher Jüdinnen und Juden auf dem Deportierten-Friedhof in Gurs.

Abb.: Hermann Bähr mit Frau Fanny und Töchtern Ruth und Margot, Breisach vor 1933.

Hermann Bähr (1878–1941)

Die Brüder Hermann und Julius Bähr waren verheiratet mit den Schwestern Fanny und Natalie Frank, die aus Rimpar bei Würzburg stammten. Sie leiteten gemeinsam ein erfolgreiches Eisenwarengeschäft in der Neutorstraße. Es waren gut situierte Familien von Kaufleuten, die geschäftliche Beziehungen sowohl nach Frankreich als auch in die Schweiz unterhielten. Die Familien waren in der jüdischen Gemeinde sehr angesehen und gut in die Stadtgesellschaft integriert.

Hermann Bähr war von 1923 bis 1940 der letzte Vorsteher des Breisacher Synagogenrates. Außerdem war er bis 1933 gewählter Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) im Stadtrat. Er war bekannt für sein bescheidenes Wesen und seine guten Taten. Die beiden Töchter Ruth und Margot sowie der Sohn des Bruders Julius, Heinz, machten am heutigen Rotteck-Gymnasium in Freiburg das Abitur, studierten und promovierten.Heinz studierte Jura und schloss sein Studium 1933 mit “magna cum laude” ab. Ruth studierte Medizin, Margot Zahnmedizin.

Heinz, Ruth und Margot haben ihre Berufe nie ausüben können. Dies lag am “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”, das am 7. April 1933 von den Nationalsozialisten erlassen wurde. Es zielte darauf ab, Menschen jüdischer Herkunft und politisch unerwünschte Personen aus dem Staatsdienst zu entfernen oder gar nicht erst in diesen eintreten zu lassen.

Beim Novemberpogrom vom 9./10. November 1938 nahm die Gestapo Julius und Hermann Bähr fest und deportierte sie mit anderen jüdischen Männern in das Konzentrationslager Dachau. Dort erlebten sie drei Wochen lang Folter und Mißhandlungen, bevor sie am 30. November freigelassen wurden.

Nach dem Tod der Schwägerin Natalie Anfang Dezember 1939 in Mannheim zogen Hermann, Fanny und Ruth Bähr in die Hebelstraße 21 in Freiburg, Julius Bähr in die Konradstraße 17. Von dort wurden sie am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, wo Hermann nach Mitte Januar 1941 starb.

Die Sammlung des Blauen Hauses beinhaltet mehr als 500 Briefe der Familie Bähr.

Abb.: Das Grab von Hermann Bähr auf dem Deportiertenfriedhof
in Gurs vor 1963 (Aquarell), Sammlung Blaues Haus.

Liste der in Gurs und anderen Lagern Verstorbenen

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